Rainer W. Walter: Eine grosse Grenchner Persönlichkeit

Rainer W. Walter: Wort und Schrift waren seine täglichen Begleiter gewesen. Bild: Familien-Archiv

Die Nachricht vom Tod eines Menschen kommt unerwartet und von einem Moment auf den anderen ist alles anders. Die Zeit scheint stillzustehen. Es ist Sonntagmorgen, 10.45 Uhr, als ich eine Nachricht auf der Combox höre. Zwei-, dreimal, bis ich die Nachricht wahrnehme. «Letzte Nacht ist mein Vater gestorben und du hattest die Ehre, das letzte Interview mit ihm zu führen», vernehme ich von Lukas Walter, Sohn von Rainer W. Walter, mit dem ich drei Tage zuvor ein mehrstündiges Gespräch geführt habe. Ein lockeres, kurzweiliges Gespräch, in dem noch einmal die vielen sympathischen Eigenheiten dieses Mannes zum Ausdruck kamen. Die Reportage, die ich eine Woche später schreibe, wird zur Aufzeichnung eines letzten Interviews mit einer aussergewöhnlichen Persönlichkeit, die den Menschen dieser Stadt manchmal kritisch, aber immer einfühlsam und epochal begegnet ist.

Vom «sure Wy»

Den Gesprächstermin habe ich mit Christian Schlup vereinbart, mit dem Rainer W. Walter in den letzten Jahren eine engere Freundschaft verbunden hat. Donnerstag, 11. April 2024, 10.30 Uhr. Christian Schlup hat eine Flasche Staader Weisswein von Andreas Marti mitgebracht. Der Grenchner Wein, das ist eine Geschichte für sich. Wer wüsste das besser als Rainer W. Walter. «Vo Gränche bygott ... chuunt der surscht Wy här», sagt er mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht. Das habe man früher immer gesagt. «Den Teil mit dem Wein haben die Grenchner geflissentlich weggelassen.» An den ersten Schluck Weisswein von einem der damals vielen Grenchner Kleinstwinzer erinnert er sich, als wäre es gestern gewesen. «Der war so sauer. Fast ungeniessbar.» Das ist lange her. Sehr lange. Der gebürtige Biberister kam vor weit über 60 Jahren in diese Stadt und «blieb hängen». Der Grenchner Wein ist längst geniessbar. Er ist salonfähig geworden.

Seine Lieblingsdestination

Rainer W. Walter fasziniert durch seine Geschichten. Ein Stichwort genügt und er schlägt eine Brücke zum Thema. Wohin es ihn gerne ziehen würde? Kurzes Nachdenken, dann die überraschende Antwort. «Nach Staad, in den Grenchner Weiler.» Wie das? Als er 1961 als Jungpolitiker aus dem Wasseramt in den Grenchner Gemeinderat gewählt wurde, ging es um die Frage, ob im Grenchner Weiler Staad ein eigenes Schulhaus gebaut werden sollte, um den Kindern den beschwerlichen Weg in die Stadt zu ersparen. Rainer W. Walter, der 1958 das Lehrerpatent erworben hatte, hob die Hand und sagte: «Wenn dieses Projekt zustande kommt, melde ich mich als Lehrer. Alle Kinder, gleich welchen Alters, sollen in einer Klasse unterrichtet werden». Das war seine Vision. Dazu kam es nicht. Die Staader Kinder wurden weiterhin im Schulhaus Eichholz unterrichtet. Das Schulhaus im Süden der Stadt war eine der Lehrstationen von Rainer W. Walter. Seine erste Stelle trat er an der Gesamtschule Huggerwald in Kleinlützel im Schwarzbubenland an. 40 Kinder in einem Raum, von der ersten bis zur neunten Klasse. Er unterrichtete alle Fächer ausser Religion und Handarbeit. Seine Idee, die er in Staad verwirklichen wollte, hatte also einen realen Hintergrund.

Seine Herkunft

Doch blicken wir zurück. Geboren wurde er 1938 in Biberist. Mit Grenchen kam er schon früh in Berührung. Genau drei Monate nach seiner Geburt, erzählt er. Damals sei er, dem Vernehmen nach, mit seinen Eltern in den Ferien nach Grenchen gefahren. Zum Grossvater, der in der Stadt bei der Kantonspolizei ar­beitete. Aufgewachsen ist er mit zwei Schwestern, die beide in der Krankenpflege tätig waren und beide Frauendienst in der Armee leisteten. «Die eine brachte es bis zum Hauptmann, die andere bis zum Feldweibel.» Und er? Er war HD-Fourier und konnte später in die Abteilung Presse und Funk, kurz APF, wechseln. Sein Flair fürs Schreiben hatte er längst entwickelt. Beruflich blieb er fast sein ganzes Berufsleben lang seiner Ausbildung treu. Bis 1971 unterrichtete er an der Primar- und Sekundarschule in Grenchen, danach während 25 Jahren im Sonderschulheim Bachtelen. Die letzten Jahre seiner beruflichen Tätigkeit war er Vorsteher des Amtes für Kultur und Sport. Diese Tätigkeit begann er zusammen mit seiner späteren Vorsteherin, der damaligen Regierungsrätin Ruth Gisi.

Der Kulturmensch

Die Kultur hat ihn, neben seinem politischen Wirken, jedenfalls gepackt, auch wenn er «von Haus aus» nicht unbedingt von ihr beseelt war. Er war Stiftungsrat der Zentralbibliothek Solothurn, Mitbegründer der Kulturkommission Grenchen und Ende der Achtzigerjahre war er Präsident des kantonalen Kuratoriums für Kulturförderung. Er gehörte zu den Mitbegründern der Grenchner Mazzinistiftung, die er unter anderem prä­sidierte. Und politisch? Drei Legisla­turperioden lang, von 1961 bis 1973, gehörte er dem Gemeinderat und von 1981 bis 1985 dem Verfassungsrat des Kantons Solothurn an.

Die Familie

Nächstes Thema: Familie, Haus und Garten, Kinder? Jetzt ist seine Frau Gerda gefragt. Verschmitzt schaut er sie an: «Gerda, sag mal, wie lange sind wir schon verheiratet?» Sie lacht. «62 Jahre.» Kennengelernt hat er «seine» Gerda am Weihnachtsball in Biberist. Damals arbeitete er in Grenchen und wohnte in einer Pension für Ledige am Grenchner Marktplatz. Später zog er mit seiner zukünftigen Frau zusammen, die er 1962 heiratete. Zwei Jahre danach konnten sie ihr Eigenheim am Lötschbergweg beziehen. Aus der Ehe gingen zwei Söhne hervor: Kilian und Lukas. Eine Frage beschäftigt mich schon lange: Alle, die ihn kennen, nennen Rainer W. Walter mit seinem Kürzel «rww». Ist das ein Markenzeichen, gelebte Eitelkeit? Nichts von alledem. «Das zweite ‹W› ist aus der Not geboren», sagt er. Und so war es auch. Während seiner Zeit als Lehrer an der Stadtschule unterrich­tete auch seine Cousine Rosina. Die Schulleitung schickte die Hauspost an beide mit der Adresse «R. Walter», was immer wieder zu Fehlzustellungen führte. Rainer W. Walter schlug deshalb vor, ihn in Zukunft mit seinem Doppelnamen anzuschreiben: Rainer Werner, oder noch besser: Rainer W.

Ein begnadeter Schreiber

Während des Gesprächs kommt Martin Walter dazu. Er ist praktizierender Arzt in Grenchen – einer der Cousins und Cousinen von Rainer W. Walter, die, wie er betont, alle in Grenchen wohnen. Martin Walter bestätigt dies. Er habe nach dem Medizinstudium und den Praktika eine Hausarztpraxis gesucht. In Grenchen wurde ein Praxisnachfolger gesucht. Martin Walter übernahm.

Rainer W. Walter hat nicht nur jahr­zehntelang kulturelle Spuren hinterlassen. Bekannt waren auch seine Artikel in verschiedenen regionalen Tageszeitungen. Während 58 Jahren schrieb er mit spitzer Feder die Kolumne «Rhabilleur» im «Bieler Tagblatt». Sein Schreiben als Rhabilleur wurde 2015 in einem Porträt im «Bieler Tagblatt» treffend beschrieben: «Rainer W. Walter setzt sein Werkzeug an die Zahnräder des gesellschaftlichen Räderwerks, immer darauf bedacht, dort zu justieren, wo es Korrekturen, Reparaturen oder Ergänzungen braucht, sei es in Fragen der Politik, der Gesellschaft oder der Bildung.» Er schrieb auch für die «Solothurner AZ» und das «Grenchner Tagblatt», für den «Kalender» und das «Grenchner Jahrbuch», dessen Mitbegründer er war. Er war auch literarisch tätig und gab Bücher heraus. Für die Kurzgeschichte «Daniela» im Erzählband «Besetztzeichen» erhielt er 1976 den ersten Preis des Schweizerischen Schriftstellerverbandes. 1981 erschien sein Roman «Der Gastarif». Während 23 Jahren war er Chefredaktor der Verbandszeitung «Sport und Verkehr» des ATB. Hier arbeitete er mit Helmut Hubacher zusammen.

Von Hans Liechti und Friedrich (Fritz) Dürrenmatt

Das ist noch längst nicht alles, was uns «rww» zu erzählen hat. In der Zwischenzeit hat Gerda Walter uns einen Apfelkuchen serviert. Ein Gedicht. Wir bedauern uns gegenseitig, dass wir nicht zu der Spezies Mensch gehören, bei der gutes Essen und Trinken keine äusserlichen Spuren hinterlässt. Essen und Trinken: Da schlägt er eine Brücke zum Namen Hans Liechti. Ein begnadeter Koch und Galerist. Er wirtete im «Volkshaus» (heute Restaurant Touring), dann im «Bad» und zuletzt im «Ochsen». Dann zog es ihn nach Neuenburg, wo er einen gewissen Friedrich Dürrenmatt kennenlernte. «Die Begegnung war ein Zufall, aber die Tatsache, dass die beiden zur gleichen Zeit zusammen in die Schule gingen, war eine Tatsache», erzählt Rainer W. Walter. Hans Liechti, der nur ­wenige Schritte von den Walters entfernt wohnte, kannte Rainer W. Walter natürlich schon länger. Und so kam es zur Begegnung mit Friedrich Dürrenmatt, der immer mal wieder bei Hans Liechti vorbeischaute, meist mit einem guten Tropfen Wein in der Hand. «Friedrich Dürrenmatt hat mir dann an einem dieser Abende das Du angeboten mit den Worten: ‹Fritz ist mein Name.›» Es seien immer schöne Begegnungen gewesen, sagt Walter. Unvergessliche dazu.

Haben wir sonst noch etwas vergessen? Meine Frage ist berechtigt. Er hat unglaublich viel für diese Stadt getan. Dafür wurde er nicht nur enorm geachtet, sondern auch immer wieder ausgezeichnet. 1990 erhielt er den Chappelitüfel, drei Jahre später den Grenchner Kulturpreis.

Vor nicht allzu langer Zeit musste er aus gesundheitlichen Gründen kürzertreten. Vor allem die schwindende Sehkraft machte ihm zu schaffen, die dem Schreibenden und Lesenden doppelt fehlte. Wort und Schrift waren seine täglichen Begleiter gewesen. Geblieben ist sein Schalk, sein manchmal sarkastischer Humor. Immer wieder mussten wir über seine Geschichten und Anekdoten schmunzeln. Vier Stunden später geht dieser wunderbare Dialog mit einem ganz besonderen Menschen zu Ende.

«Es ist Zeit zu gehen», sage ich, nicht ahnend, dass dieser Satz zweieinhalb Tage später einen tragischen Unterton haben wird. Ein letzter Händedruck, ein Lächeln auf seinen Lippen.

Lieber «rww» – es war mir eine grosse Ehre, mich mit dir austauschen zu dürfen. Ruhe in Frieden!