Brückenbauerin zwischen Kulturen

Christine Zumstein ist Stadtführerin von Grenchen – und das mit Passion. Und wenn sie mit Gästen unterwegs ist, erzählt sie immer auch die Geschichten über ihre Erfahrungen mit den italienischen Gastarbeitern, die sie Anfang der Siebzigerjahre als frischgebackene Lehrerin gemacht hat. Und noch viel mehr über eine Stadt, die ihrer Meinung nach immer wieder unterschätzt wird und die sich immer wieder neu erfindet.

Christine Zumstein vor der Skulptur «Unendliche Schlaufe» von Max Bill beim Grenchner Parktheater. Bild: Joseph Weibel

Grenchen ist ihre Stadt, ihre Heimat. Zwar hat sie bis vor drei Jahren längere Zeit in Selzach und Solothurn gewohnt, aber «Grenchen war und ist wieder mein Lebensmittelpunkt». Diese Stadt hat sie auch beruflich geprägt. Anfang der Siebzigerjahre, konkret 1974, kam sie frisch vom Lehrerseminar und war auf Stellensuche. In Grenchen wurde sie fündig – für den Unterricht in einer ganz besonderen Klasse.

Wir sitzen im Parktheater Grenchen. Als Stadtführerin von Grenchen weiss Christine Zumstein immer eine Geschichte zu erzählen. Nein, nicht nur über das Parktheater, sondern vor allem über die Skulptur von Max Bill: «Die ‹Unendliche Schlaufe› stand ursprünglich auf dem Boden – dann wurden auf dem Areal Parkplätze geschaffen, so dass die Skulptur hinter den parkierten Autos regelrecht ‹verloren› ging.» Das sei aber nicht die Geschichte, schmunzelt sie. Vielmehr wurde einfach ein Betonsockel geschaffen und die Skulptur darauf platziert.

Schnelle Anstellung

Auch die Anstellung an der Schule Grenchen verlief unkompliziert. Nach mehreren Absagen wurde sie zu einem Vorstellungsgespräch für eine ausgeschriebene Stelle in Grenchen eingeladen – und zwar direkt während einer Schulkommissionssitzung. Nach der Vorstellungsrunde wartete sie vor dem Sitzungszimmer, und eine Stunde später kam Erwin Berger zu ihr und verkündete, dass sie die Stelle bekommen würde. «Sie müssen nur kurz eine einfache Bewerbung auf ein Blatt Papier schreiben.» Während er das sagte, reichte er ihr ein A4‑Blatt und wartete auf ihre einfache Bewerbung, die gleichzeitig ihre Zusage war. Ihre Aufgabe: Sie unterrichtete in der so genannten Anpassungsklasse für Kinder, die aus Italien zu uns gekommen waren.

Die Schwarzenbach-Initiative

Nachzugskinder deshalb, weil die zugewanderten Eltern, die in Grenchen auf dem Bau oder in der Uhrenindustrie Arbeit gefunden hatten, ihre Kinder vorsorglich in der Heimat zurückliessen, weil in den Siebzigerjahren über Überfremdungsinitiativen abgestimmt werden musste. Doch die Initiativen, die schon damals die Zahl der Ausländer in der Schweiz begrenzen wollten, wurden abgelehnt. Es waren damals vor allem die Arbeiter, die der Initiative zustimmten, weil sie um ihre Arbeitsplätze fürchteten. Jedenfalls kamen nach der Ablehnung die Kinder der Gastarbeiter erst später zu ihren Eltern in die Schweiz. Die Anpassungsklasse von Christine Zumstein bestand damals aus zehn Kindern. Nach zwei Jahren wurde die Klasse aufgelöst, weil keine weiteren Kinder mehr nachkamen. «Für mich waren diese zwei Jahre sehr prägend», erinnert sich Christine Zumstein dankbar. Danach übernahm sie Primarschulklassen im Zen­trum und später im Schulhaus Halden und unterrichtete bis 1985 in Grenchen.

So kam sie in die Erwachsenenbildung

In den zwei Jahren, in denen sie den Anpassungslehrgang leitete, hatte sie regelmässig Kontakt zu den Eltern, die kaum Deutsch sprachen. «Ich war der Meinung, dass auch die Erwachsenen die deutsche Sprache lernen sollten.» In Grenchen war das möglich, weil die Stadt Deutschkurse für Erwachsene anbot. So kam sie indirekt zur Erwachsenenbildung und Jahre später als Geschäftsleiterin an die Volkshochschulen Solothurn und bis zu ihrer Pensionierung an die VHS Bern.

Zu der Zeit bot die Schweiz in Zusammenarbeit mit dem italienischen Staat ein Pilotprojekt an – Erwachsenenbildung für in der Schweiz arbeitende Italiener, die in Italien nur die Grundschule besucht hatten und deshalb bei einer Rückkehr keine Chance auf einen Arbeitsplatz hatten. Federführend war die Stiftung ECAP, ein Berufsbildungsinstitut aus Italien. Mit ihrem Angebot ermöglichte die interkulturelle Organisation Bildung für Migrantinnen und Migranten und generell für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit geringer formaler Bildung. Die Angebote bestehen auch heute noch – nicht nur für italienische Staatsbürger, sondern für alle Ausländer.

Die Sache mit dem Doppelnamen

Christine Zumstein lernte in ihrer ersten Zeit als Lehrerin nicht nur Menschen aus Italien kennen, sondern auch ihren späteren Ehemann. «In der Schweiz trug ich den Namen meines Mannes, Regolo, im italienischen Pass war mein Ledigname eingetragen, weil das in Italien so üblich war.» Erst ab 1988 durfte sie in der Schweiz den Doppelnamen – Zumstein Regolo – tragen, was sich im Umgang mit den Behörden als Erleichterung erwiesen habe, schmunzelt sie rückblickend. Italienerinnen und Italiener nennen sie übrigens liebevoll Cristina, wie sie noch bemerkt.

Ihr damaliger Mann war Präsident der Colonia Libera Italiana in Grenchen, und so wurde sie immer mehr mit der italienischen Kultur vertraut. Wie ist das Verhältnis zwischen Schweizern und Italienern? «Die Italiener haben und hatten immer einen grossen Zusammenhalt untereinander. Das Zusammenleben mit den Schweizern war von gegenseitigem Respekt geprägt, meist ohne viele Berührungspunkte.» Sie erinnert sich an eine Episode, als Italien 1982 im Vier­telfinal der Fussballweltmeisterschaft stand. «Zwei junge Italiener klingelten an unserer Tür und fragten meinen Mann nach dem Schlüssel zum Haus der Colonia Libera.» Sie wollten dort die italienischen Fahnen holen, um ihrer Freude Ausdruck zu verleihen. Mein Mann sagte zu ihnen: «Ich gebe euch den Schlüssel unter der Bedingung, dass ihr keinen Lärm macht und nicht provoziert.»

Solche und andere Geschichten erzählt sie auf ihren Stadtführungen. Ab und zu muss sie auch erklären, dass Grenchen auch ohne Altstadt viel zu bieten hat. Nicht nur früher, sondern auch heute. Christine Zumstein schätzt das vielfältige kulturelle Angebot in Grenchen. «Grenchen wird immer wieder unterschätzt. Aber ich kenne keine andere Stadt, die sich immer wieder neu erfinden muss und kann.»