Der Seeländer, der gerne auch ein Grenchner ist

Reto Kämpfer.

«Ich bin seit fünf Jahren Leiter der Sozialen Dienste Oberer Leberberg und am 1. Januar 2025 sind nur zwei Kollegen länger im Amt als ich.» Reto Kämpfer sagt das fast pathetisch, während wir raschen Schrittes gefühlte vier Stockwerke im ehemaligen Ebosa-Gebäude erklimmen. Woran liegt’s? «Am Generationenwechsel», sagt Kämpfer, der nicht nur Chef der Sozialen Dienste ist, sondern in einer Doppelfunktion auch das Netzwerk Grenchen leitet. Im Ebosa-Gebäude gäbe es auch einen Lift. Aber Reto Kämpfer ist passionierter Hobbysportler, Treppensteigen gehört zum Programm – auch das Genussmittel Kaffee. Die Cafeteria ist in der «Beletage», ganz oben. Und da trifft man den Chef ab und zu auch an.

Wie so oft im Leben kommt es anders, als man denkt. Das gilt auch für den gebürtigen Oberaargauer, der seit einem Vierteljahrhundert mit seiner Familie in Biel-Bözingen lebt und sich längst als Seeländer fühlt. In seinen ersten Berufsjahren war er gedanklich noch weit von seiner heutigen Tätigkeit entfernt. Als Grundausbildung absolvierte er, wie so viele, das KV – bei einer Bank. «Ich gehörte zur ersten Generation, bei der die Arbeitgeber die Zeit der Rekrutenschule nicht mehr mit dem Lohn überbrücken wollten.» Er spricht es nicht aus – aber für ihn war es ein Bruch und der Auslöser, andere Wege einzuschlagen. Sportlich war Reto Kämpfer schon immer ambitioniert. Er spielte Volleyball, und weil er davon nicht leben konnte, machte er eine Ausbildung zum Taxifahrer und arbeitete im Sommer als Taxifahrer und im Winter als Skilehrer. Dabei lernte er seine spätere Frau kennen. Sie war Lehrerin im Seeland. Und er wusste, dass er nicht auf Dauer Leute durch die Weltgeschichte chauffieren wollte.

Der Zufall wollte es, dass ein Bekannter dem Oberaargauer von einem Kinderheim in Langenthal erzählte und dass es spannend sei, mit Jugendlichen zu arbeiten, die in ihrem jungen Leben nicht nur Glück hatten. So absolvierte der damals 25‑jährige Reto Kämpfer eine berufsbegleitende Ausbildung zum Sozialpädagogen und arbeitete danach in diesem Kinderheim. Dann zog es ihn und seine Frau – ein Jahr nach der Hochzeit – nach Biel, weil er eine Praktikumsstelle im Seeland fand. Das war 1996. 2003 wechselte Reto Kämpfer beruflich in die Stadt Bern und arbeitete in einem Integrationszentrum, vergleichbar mit dem Netzwerk Grenchen. Vor seiner Anstellung in Grenchen war er für die Fachstelle Integration in Biel zuständig. Der politische Wechsel in Biel habe ihn hierhergeführt.

Es ist eine halbe Lebensgeschichte, die Reto Kämpfer mit dem gleichen sportlichen Tempo erzählt, mit dem er geht, Ski fährt oder Volleyball spielte. Es ist nicht immer leicht, ihm zu folgen. Ein Theoretiker ist der Mann jedenfalls nicht. Im Jahr 2013 wurde er zum Geschäftsführer des Netzwerks Grenchen ernannt und hinterliess schnell seine Spuren. Man sagt, er mache Sozialpolitik aus der dritten Reihe und Grenchen gelte in Sachen Arbeitsintegration als Trendsetter im Kanton. Und so erstaunt es nicht, dass er die enge Zusammenarbeit mit der Regiomech Solothurn und Olten sowie der Prowork AG betont – alle mit dem gleichen Ziel der Arbeitsintegration. Sogar nach Biel hat er die Fühler ausgestreckt und arbeitet eng mit der Fachstelle zusammen, in der er einst selbst tätig war – eine vertraglich verankerte Verbindung, die dem Netzwerk einen Umsatz von 1,5 Millionen Franken beschert. Dass er neben der Stadt Grenchen, mit der ihn eine starke Identifikation verbindet, immer auch die Stadt Biel erwähnt, hat seinen Grund. «Es sind zwei Randregionen, die im jeweiligen Kanton nicht immer ganz ernst genommen werden. Und doch zeigen die beiden Städte, wie es geht.» Was anders ist in Grenchen? Er schätzt es, dass man sich hier auf der Strasse grüsst – im Gegensatz zu Biel.

So fliessend, wie er seine Doppelfunktion meistert, ist auch unser Gespräch. Schliesslich ist er nicht nur Geschäftsführer des Netzwerks Grenchen, sondern hat 2019 auch die Leitung der Sozialen Dienste Oberer Leberberg von seinem Vorgänger Kurt Boner übernommen. Die ehemals kommunal organisierten Sozialen Dienste wurden in insgesamt 13 Regionen des Kantons zusammengefasst. Knapp zwei Drittel seiner Tätigkeit widmet er den SDOL, wie die Sozialen Dienste Oberer Leberberg kurz genannt werden. Nein, Jobsharing würde er das nicht nennen. Vielmehr sieht er sich in der strategischen Rolle des CEO beider Organisationen. Er bezeichnet sich als «Aussenminister», der sich auch um die Administration und die Politik kümmern muss. Wichtig ist ihm, dass die Unternehmen auch ohne ihn reibungslos funktionieren. Von der Führung her sind sie jedenfalls so aufgestellt. Und das hat bisher ganz gut geklappt.

Zur Klientel der Sozialen Dienste gehören Menschen, die beruflich oder privat – meist beides – mit Problemen zu kämpfen haben. Da fällt es nicht leicht, die richtigen Worte und Entscheidungen zu finden. Oder doch? Die Hemmschwelle der Klienten sei sehr niedrig geworden, sagt er. Der Ton sei rauer geworden, oft werde gleich mit dem Anwalt gedroht. Er nennt die Ukraine-Krise, die Migration oder die überlastete Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ereignisse und Tatsachen, die den heutigen Alltag immer mehr prägen und erschweren würden. Hinzu kämen äussere Einflüsse wie etwa die Missstände bei der Ausgleichskasse des Kantons Solothurn. «Wenn Bedürftige monatelang auf ihre Ergänzungsleistungen warten müssen, betrifft uns das sehr schnell.» Er kritisiert den immer enger werdenden Arbeitsmarkt. Arbeit für qualifizierte Arbeitskräfte gäbe es genug, aber die verfügbaren Arbeitskräfte fehlten – sei es, weil sie nicht fit genug sind, sei es, weil sie nicht über die entsprechenden Qualifikationen verfügen.

Sind die Jungen zu verwöhnt, zu weich geworden? Er verneint. Er findet sogar, dass die Jugend von heute die Work-Life-Balance in Angriff nimmt. «Sie übernehmen Verantwortung und können sich an veränderte Bedingungen anpassen.» Er selbst wisse, was es bedeute, das Bewusstsein für das Delegieren zu fördern und die Arbeit auf mehrere Schultern zu verteilen. Für ihn ist dies gleichbedeutend mit der eigenen Psychohygiene. «Ich bin kein linear denkender Mensch», sagt der Pilzsammler. «Pilze wachsen in einem komplizierten, aber faszinierenden Netzwerk im Boden – jedenfalls nicht linear.»

Wir haben auch vom Sportler Kämpfer gehört, der zu Beginn des Gesprächs erzählte, wie er damals, im Juli 2002, seine Frau fragte, ob er noch vor der Geburt des ersten Kindes einen Ironman bestreiten solle. Das war im Juli – kurze Zeit später nach diesem Lauf, wurde er Vater eines Sohnes. Als Jugendlicher spielte er Volleyball, betrieb Leichtathletik und Ausdauersport, im Winter Langlauf und Skifahren. Segeln lernte er auf dem Bielersee. Den See bezeichnet er als seine zweite grosse Liebe. Für seine drei Kinder bedeutete Segeln, dass sie schwimmen lernen mussten. Der sportliche Vater liess sich nicht zweimal bitten und ist selber begeisterter Schwimmer und als Funktionär in Schwimmvereinen aktiv. «Wissen Sie, warum der Körper beim Schwimmen so viele Kohlehydrate verbrennt?» Nein. Weiss ich nicht. «Das Wasser ist in der Regel immer kälter als die Körpertemperatur – da muss der Körper einen Ausgleich schaffen.» Sprich: Schwimmen ist der beste Kalorienkiller!

Reto Kämpfer stammt aus einer Zimmermannsdynastie. Praktische Hände wurden ihm in die Wiege gelegt. Die braucht er heute in Haus und Garten, wo ein Gewächshaus und Hochbeete stehen. Unter anderem. Urlaub? «Ferien?», fragt er zurück. «Wir leben in den Ferien: am See, im Jura, im eigenen Garten, abends beim Grillieren.» Er liebt die vier Jahreszeiten, wie wir sie hier kennen. Ja, nach 20 Jahren war er mal wieder «draussen», Ferien in Südfrankreich. Und? Nichts und. Er weiss, dass er diese Form der Freizeitgestaltung definitiv nicht braucht.

Vorname/Name: Reto Kämpfer

Geburtsdatum: 9. Februar 1973

Zivilstand: Verheiratet

Beruf: Leiter Soziale Dienste Oberer Leberberg und Netzwerk

Wohnort: Biel

> Steckbrief

Meine Lieblingsdestination:

Erlach am Bielersee

Lieblingsspeise: Partyfilet

Aufsteller der Woche: Grosser Fund von Totentrompeten und ChatGPT

Worauf kann ich nicht verzichten: Seeluft einzuatmen

Ich würde nie … einen Fallschirmsprung wagen

> fünf fragen