Eine kleine Weihnachtsgeschichte
Wenn Weihnachten eine ganz besondere Bedeutung erhält.

Ein schriller Lärm war schon von weitem zu hören, als Albert Weider nach einem kurzen Pausengespräch mit seiner Lehrerkollegin in sein Klassenzimmer zurückkehrte. Albert Weider hielt kurz inne, zog unbewusst die Mundwinkel hoch und sprach zu sich selbst: «Können halbwüchsige Kinder der zweiten Sekundarklasse so laut sein?» «Ja, können sie», gab er sich selbst die Antwort.
«So, Ruhe jetzt – ich verkünde unser heutiges Diskussionsthema!» Albert Weider blickte in die verdutzten Gesichter seiner Schülerinnen und Schüler und fuhr fort: «Was bedeutet Weihnachten für euch? Was verbindet ihr mit dem Weihnachtsfest? Weihnachten – was ist das?»
Mucksmäuschenstill war es in der Klasse. «Wirklich?» Mario beendete die Stille im Raum und gab die Frage an den Lehrer zurück. «Ja», sagte Albert Weider, «ich möchte gerne wissen, wie die Generation Z über eine altehrwürdige Tradition wie Weihnachten denkt!»
Mario fühlte sich sichtlich angesprochen und entschied sich, nicht weiter zu fragen, sondern zu antworten. «Wissen Sie was, Herr Weider, Weihnachten ist für mich wirklich tagelanger Stress.» «Und warum?», fragte der Lehrer zurück. «Die ganze Verwandtschaft kommt zusammen und fällt wie ein Heuschreckenschwarm über uns her und vernichtet alles, was irgendwie ess- oder trinkbar ist.» Er hielt inne und wartete gespannt auf die Reaktion des Lehrers. «Und was fällt dir noch ein?» Mario verschränkte die Arme. «Das war’s!»
Heidi hob den Finger. «Ab dem ersten Advent verfällt meine Mutter in einen Weihnachtsrausch, schmückt das ganze Haus von unten bis oben. Fast täglich werden Guetzli gebacken und in die hübsch bemalten Schachteln gepackt, in denen früher die Guetzli aus dem Läckerli Huus in Basel aufbewahrt wurden. Vom ersten Advent bis nach Weihnachten gibt es keinen Streit.» Heidi hob kurz die Hände, als wolle sie sich für den kurzen Vortrag entschuldigen. «Und? Teilst du die Euphorie deiner Mutter?», fragte Weider. «Na ja. Schön ist es schon. Aber ein bisschen weniger würde auch reichen!» Patrizia hob den Finger. «Ich sehe das ein bisschen anders. Mein Vater ist Arzt in einer Kinderklinik. Da gibt es die Kurzstationären, die für einen kleinen Eingriff ein paar Tage im Krankenhausbett liegen. Und dann gibt es die anderen, die vielleicht nie wieder nach Hause können, weil sie an Krebs erkrankt sind und ständige Pflege brauchen. Als ich mit meiner Mutter zum ersten Mal die Palliativstation besuchte, war ich tief beeindruckt. Ich blickte in die strahlenden Augen der Kinder und sprach wie selbstverständlich mit ihnen. In der Advents- und Weihnachtszeit begleite ich meine Mutter bei jeder Gelegenheit und verbringe oft einige Stunden auf dieser Station. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, wenn schwerkranke Kinder darauf warten, dass jemand kommt, der sich um sie kümmert und sie aufmuntert. Nicht alle Kinder haben Familienangehörige, die für sie da sind. Gerade an Heiligabend ist das sehr belastend. Auch wenn wir Weihnachten anders feiern als wahrscheinlich viele andere, ist Weihnachten für mich eine grosse Freude – weil ich diesen Kindern durch meine Anwesenheit Geborgenheit geben kann».
«Sehr beeindruckend, Patrizia.» Lehrer Albert Weider blickte mit ernster Miene in die Runde. «Wisst ihr, warum wir Weihnachten feiern?» «An Weihnachten wird die Geburt Christi gefeiert», sagte Peter, der nicht gerade als grosser Kommunikator in der Klasse galt. «Für mich hat dieses Fest immer eine ganz besondere Bedeutung gehabt. Mein kleiner Bruder, er war sechs Jahre alt, ist an einem Weihnachtsabend gestorben. Einfach so. Herzversagen ...» Albert Weider wusste zwar, dass die Anders zwei Söhne hatten, von denen einer früh starb. Dass dieser an einem 24. Dezember starb, wusste er nicht. Peter erzählte: «Im Jahr darauf haben wir am 24. Dezember eine grosse Kerze für meinen Bruder angezündet. Und in Gedanken haben wir Weihnachten mit ihm gefeiert. Es ist, als wäre er unter uns und würde uns mit seiner Fröhlichkeit, die ihn so ausgezeichnet hat, beglücken. Heute weiss ich: Es gibt Dinge, die kann man nicht erklären und die muss man auch nicht erklären.»
Die Diskussion in der Klasse ging nun in eine ganz andere Richtung. Niemand hatte damit gerechnet, dass ausgerechnet der ruhige Peter aus seinem Innersten sprechen würde. Niemand lächelte mehr, wenn jemand abwertend die kommerzielle Seite von Weihnachten hervorhob, den Einkaufs- und Essensstress oder das «Muss» der Mitternachtsmesse. Für einen Moment herrschte bedrückende Stille im Raum.
Fränzi fand als erste wieder Worte und versuchte zu ergänzen, was Peter mit seinen Gedanken begonnen hatte. «Für mich ist es jedes Jahr wieder sehr berührend, wenn meine ganze Familie zusammenkommt und wir gemeinsam um den Weihnachtsbaum sitzen, Weihnachtslieder singen und Zeit miteinander verbringen. Manchmal wünsche ich mir, dass das immer so bliebe. Ich weiss, dass das wahrscheinlich Wunschdenken ist, aber dann wird uns immer wieder bewusst, wie dankbar wir alle sein können.» Sie stand auf, ging auf Peter zu und bedeutete ihm, kurz aufzustehen. Sie umarmte ihn und sagte ganz einfach: «Ich wünsche dir und deinen Lieben von ganzem Herzen frohe Weihnachten!»
In der Klasse war es mucksmäuschenstill. Kein Räuspern, keine dummen Sprüche, kein Lachen. Alle waren wie gelähmt. Es schien, als wären alle Fragen, die Lehrer Weider zu Beginn gestellt hatte, beantwortet.