Warum Manuel, Agit, Valdrina, Faton und Leon ein Herz und eine Seele sind
Rodania feiert dieses Jahr 40. Jubiläum und begleitet erwachsene Menschen mit kognitiven oder mehrfachen Beeinträchtigungen. Aus der einstigen Beschäftigungsstätte für Schwerbehinderte Grenchen ist eine hochprofessionell geführte Institution geworden, die heute 65 Menschen in einer von neun Wohngruppen und 15 externen Klienten in einem umfassenden Atelierangebot Platz bietet. Seit 1996 befindet sich die heutige Stiftung im ehemaligen «Rodania»-Gebäude.
10 Uhr. Es ist Pausenzeit. Auch in der Rodania. Kaffee, Tee oder Schokomilch. Dazu ein leckeres Brötchen aus der hauseigenen Bäckerei. Lecker, finden auch die Gäste, die pünktlich im Pausenraum eintreffen. Manuel Traut streckt dem Gast die Hand zur Begrüssung entgegen. Er schüttelt den Kopf. «So nicht», sagt er und reicht mir erneut die Hand. Ich muss fester drücken und die Hand ganz umschliessen. Jetzt soll ich auch noch meine Jacke ausziehen, fordert er. «Später», sage ich. Manuel Traut ist ein interner Klient und Bewohner der Wohngruppe Australien. Er ist einer von 65 Erwachsenen, die rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, betreut und begleitet werden. Was er gerne macht? Zum Beispiel telefonieren. Während er das sagt, winkt er Eric Schild herbei und bittet um ein Handy. Er steckt es in sein Headset, lässt sich anrufen und plaudert munter mit dem Mann, der ihm das Handy geliehen hat. Eric Schild, Bereichsleiter der Tagesstätte, arbeitet seit 25 Jahren bei der Rodania.
Der etwas andere Alltag
Eric Schild: Der Mann ist die Ruhe selbst. Wo immer er auftaucht, wird er von den begleiteten Menschen freudig begrüsst. «Sali Eric.» «Sali Manfred», sagt Eric Schild und erkundigt sich nach dem Befinden. Allen geht es gut, so scheint es. In Wirklichkeit ist das natürlich nicht immer so. Stimmungsschwankungen, starke Ermüdungserscheinungen der Bewohner gehören hier zum Alltag. Und doch finden hier alle eine Beschäftigung in einer der rund zwölf Ateliers. In der ersten waren wir gleich zu Beginn eines ausgiebigen Rundgangs durch den mittlerweile stark gewachsenen Komplex der ehemaligen Uhrenfabrik Rodania. In der Backstube, wo einmal in der Woche für die Belegschaft gekocht wird. Heute ist Mittwoch, Kochtag. Es gibt Lauchcremesuppe, Rindfleisch oder Tofu, dazu Gemüse und Reis. Den süssen Abschluss bildet eine Zimtcreme, garniert mit Zwetschgenkompott. «In der Regel essen 20 Personen unser Drei-Gänge-Menü», sagt Marcel Joggi, Co-Leiter des Backateliers. Der gelernte Bäcker wird von vier bis sechs Klienten unterstützt. Wie viele es morgen sein werden, weiss er noch nicht. Diese Ungewissheit ist Alltag. Die Zahl der Helfer hängt von mehreren Faktoren ab. Das weiss er. Seit 2007 ist er hier. Als Praktikant kam er in die Rodania, später machte er eine Fachausbildung für die Betreuungsarbeit und ist Co-Leiter der hauseigenen Bäckerei. Mittwochs wird leckeres Brot gebacken, freitags gibt es Zopf. «Den kann man am Vortag bei uns bestellen», macht er Werbung in eigener Sache.
Und alle sind sie fröhlich
Eric Schild wird etwas nervös. «Wir müssen», sagt er. «Es stehen noch ein paar Ateliers auf dem Programm.» Also ziehen wir los. Wir, das sind Eric Schild, Sabrina Schwab, Verantwortliche Marketing und Kommunikation, sowie ich. «Schade, im Moment ist es hier etwas farblos», Eric Schild zeigt auf den Permakultur-Garten. «Hier kann man die Jahreszeiten ablesen». Drinnen wird gearbeitet. «Es gibt viel zu tun», sagt Hélène Joray, Co-Leiterin des Ateliers. Schöne Gestecke oder Samenbomben, die verkauft werden, wie so vieles, was in den verschiedenen Ateliers entsteht. Auf einem Tisch stehen zwei Insektenhotels, die bald in einem Garten kleine Gäste aus der Natur beherbergen werden.
Ein paar Schritte weiter, im Holzatelier, wird deutlich, wie sehr die Betreuerinnen und Betreuer täglich gefordert sind. Ein Klient im Rollstuhl wirft kleine Holzstücke auf den Boden. Immer wieder. Stück für Stück. Stolz zeigt Sascha Dubois ein Produkt, das hier entsteht: «K-Lumet», diese kleinen Hölzchen, zu einer Rondelle geformt, zusammengebunden und mit einem Anzünddocht versehen. Eigentlich ist das eine filigrane Arbeit.
In der Töpferei nebenan kommt gleich Michelle Zurbuchen auf mich zu und begrüsst mich fast stürmisch. Ob sie aufs Foto wolle, frage ich. Klar will sie, nimmt die Hand von Co-Leiterin Claudine Viatte und stellt sich mit ihr vor das Regal mit den schönen Töpferwaren. Sie strahlt über das ganze Gesicht wie ein Maikäfer.
Fachpersonal ist nicht einfach zu finden.
Im Metallatelier arbeiten heute drei Klienten. Mal sind es mehr, mal weniger. Das ist Alltag, auch hier. Recycling und Nachhaltigkeit werden hier gelebt. Alte Haushaltsgeräte, Besteck, Unterhaltungselektronik von vorgestern und vieles mehr liegen zu Dutzenden in den Regalen. Teile davon finden vielleicht einmal Verwendung in einem der vielen Kunstwerke, die hier entstehen.
Nächste Station ist die Spedition. Auf dem Weg dorthin treffen wir auf den technischen Dienst, angeführt von Res Koeninger, dem Co-Leiter der Schule. Er stellt seine Helfer vor. «Das ist Dominik Hug, meine rechte Hand, Leon Salihaj, meine linke Hand, und Faton Zenuni, mein Stellvertreter.» Bei aller Schicksalhaftigkeit, die hier auf Schritt und Tritt spürbar und sichtbar ist, ist Komik erlaubt. Seine Helfer lachen fröhlich, als er sie vorstellt. So geht es in der Rodania zu und her. Doch zurück zur Spedition. Was muss man sich darunter vorstellen? Alles, was in der Rodania produziert und von externen Kunden bestellt wird, wird hier verpackt und verschickt. Oder es gibt noch die eine oder andere Beschäftigung, wie Silja Brunner, Mitarbeiterin in der Tagesstätte, mit dem Klienten Oliver Steuri demonstriert.
Wir machen noch einen kurzen Abstecher ins Atelier für Basale Stimulation. Kein Alltagsbegriff. Die Erklärung folgt auf dem Fuss. Hier finden die Klienten Entspannung durch Massagen und Sinnesreize mit Lichteffekten oder Düften. Der Laie fragt sich vielleicht: Braucht man das alles? Ja, das muss sein. Die Arbeit in diesem Haus nennt sich Agogik. Menschen werden in ihrer Sozial-, Selbst- und Fachkompetenz gefördert. Das erfordert eine hohe Kompetenz des Fachpersonals. 167 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betreuen in der Rodania rund 60 interne Klienten und täglich fast insgesamt 80 in der Tagesstätte. Hinzu kommen 23 Praktikums- und Ausbildungsplätze. «Es ist nicht einfach, diese Betreuungspersonen zu finden», greift Eric Schild der aufkommenden Frage vor. «Wir betreuen rund um die Uhr. Das heisst: Abend-, Nacht- und Wochenenddienste. Und dafür finden wir nicht immer so schnell Mitarbeitende.
Nach dem Rundgang – es hat nicht für alle Ateliers gereicht – geht es zurück ins Feld 1, in das Backatelier. Dort sitzen Agit Argül, Manfred Hofer und Valdrina Ahmeti. Manuel Traut streckt seine Hand aus. Jetzt klappt es gleich zu Beginn mit dem richtigen Händeschütteln. Und ich komme seiner Bitte nach, die Jacke auszuziehen. Alles ist gut. Hier spielen Nationalität und andere Befindlichkeiten keine Rolle. Jeder trägt seinen Rucksack. Valdrina Ahmeti will singen. Vorsingen. Sie lässt sich ein albanisches Volkslied suchen und singt zur Musik. Sie und Agit Argül rotieren durch die verschiedenen Ateliers. Manfred Hofer, seit zehn Jahren in Rodania, ist auf einem Bauernhof aufgewachsen. Deshalb verbringt er heute gerne Zeit auf dem externen Bauernhof Knörr. Ausserdem spielt er gerne auf seiner Handorgel.
Es ist Mittagszeit. Das Essen für die begleiteten Menschen sowie die Mitarbeitenden wird normalerweise von der SV Group geliefert. Der kurze, aber eindrückliche Besuch in dieser Institution hinterlässt gleich mehrere tiefe Eindrücke. Hier leben Menschen, die ohne fremde Hilfe keine Chance hätten, in einer für sie geeigneten Umgebung zu leben. Chapeau vor den Menschen, die hier arbeiten und die betreuten Frauen und Männer so nehmen, wie sie sind. Und wir stellen uns die Frage: Wie gross sind unsere eigenen vermeintlichen Probleme wirklich?
> Stiftung rodania – ganz kurz > Stiftung rodania – ganz kurz
1984 Gründung als VereinBeschäftigungsstätte für Schwerbehinderte Grenchen
1989 Gründung Stiftung Wohnheim für Schwerbehinderte
1994 Eröffnung Wohngruppe mit sieben Bewohnenden
1996 Umzug in die ehemalige Uhrenfabrik «Rodania»
1999 Gründung Stiftung für Schwerbehinderte Grenchen (Zusammenführung der Vorgänger-Institutionen)
2006 Eröffnung Neubau «Rodania»
2010 Eröffnung Aussenwohngruppe Chiron
2022 Eröffnung Aussenwohngruppe Delphin
2023 Namenswechsel inRodania-Stiftung